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„Alles in Ordnung? Du siehst aus, als wärst du ganz woanders, und du atmest so komisch. Ist es dein Asthma? Soll ich dir deinen Inhalator holen?“ Roxy klang furchtbar besorgt.

Ich schüttelte den Kopf, um die Schatten der ... Vision - anders konnte man es nicht nennen - zu vertreiben, und schob mit zittrigen Händen mein Bier zur Seite. Mir war immer noch übel und schwindelig, aber allmählich wurde es besser. „Nein, nein, mir geht es gut. Tut mir leid. Ich war irgendwie geistig weggetreten. Wahrscheinlich vertrage ich keinen Alkohol mehr.“

Roxy bedachte mich mit einem komischen Blick, halb besorgt, halb verärgert, sagte aber nichts mehr dazu. Sie redete weiter mit Arielle, während ich mich zusammenriss und versuchte dahinterzukommen, welche Streiche mein Verstand mir spielte. Es musste an dem Bier liegen - so etwas Unheimliches hatte ich noch nie zuvor erlebt. Nicht einmal bei dem vermaledeiten Runenorakel beim Frauen-Eso-Festival hatte ich das Gefühl gehabt, die Marionette einer Macht zu sein, die ich nicht verstand - und an die ich vor allem überhaupt nicht glaubte. Entweder handelte es sich um irgendeine merkwürdige Reaktion meines Körpers auf das Bier oder ich war auf dem besten Weg, verrückt zu werden. Vielleicht war das ja tatsächlich der Fall und ich drehte wirklich ab.

Diese Vorstellung gefiel mir fast besser als der Gedanke, dass ich tatsächlich eine Vision gehabt hatte.

Ich leckte mir über die trockenen Lippen und merkte, dass ich immer noch den metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge hatte.

„Was meintest du damit - ,das letzte Opfer'?“, platzte ich unvermittelt heraus.

Alle drei Frauen starrten mich an. Arielle hatte irgendetwas gesagt, das mir plötzlich sehr wichtig zu sein schien. „Du hast von mehreren Frauen gesprochen, die auf eurem Markt waren und hinterher getötet wurden, und von einer hast du gesagt, sie war das letzte Opfer. Was hast du damit gemeint?“

„Gar nichts“, fuhr Tanya mich an. „Sie hat gar nichts damit gemeint. Die deutsche Polizei hat hinlänglich bewiesen, dass wir nichts damit zu tun hatten, also kannst du dir deine Anschuldigungen sparen.“

Überrascht von Tanyas Verbalattacke schob ich die Sorge um meine mögliche Geisteskrankheit beiseite.

„Hör mal, Tanya, es tut mir leid, wenn du denkst, ich würde euch irgendetwas unterstellen, denn nichts liegt mir ferner. Was Arielle gesagt hat, hat mich nur neugierig gemacht.“

„Das war nur belangloses Zeug“, entgegnete Tanya mürrisch und starrte in ihr Bierglas. Ich schürzte die Lippen und sah Roxy an, doch sie zuckte nur mit den Schultern. Ich lehnte mich zurück, versuchte, die Finsternis zu ignorieren, die mich erneut zu umfangen drohte, und konzentrierte mich auf die wenigen Anhaltspunkte, die Arielle uns gegeben hatte.

Ich liebte Kriminalgeschichten und diese Sache schien mir das ideale Thema zu sein, mit dem ich mein Gehirn beschäftigen konnte, während ich darauf wartete, dass die Männer mit den weißen Kitteln mich abholten.

„Also gab es wirklich mehrere Tote?“, fragte ich Arielle. Kaum waren die Worte über meine Lippen, überkam mich eine ungeheure Befriedigung, die mit einem Gefühl der Dominanz und Eroberung einherging. Ich spürte die Wärme eines anderen Körpers, den ich fest umklammert hielt, nahm den Duft ihres Shampoos wahr und fühlte ihre seidenweiche Haut an meinem Mund. Es rann mir heiß die Kehle hinunter, die Wärme erfüllte die eisigen Körperregionen und besänftigte die brüllende Bestie im Inneren ...

Als ich die Augen aufriss, musste ich wegen des schrecklichen Geschmacks in meinem Mund husten und würgen. Blut. Er hat sich an jemandem gelabt.

Das war zu viel für mich. Ich wollte aufstehen, musste mich aber am Tisch festhalten. „Ich glaube ... ich glaube, ich ...“ Ein tiefes rotes Loch tat sich vor mir auf und ich krallte mich an die Tischplatte, um nicht hineinzustürzen.

„Joy?“

Roxy sprang auf, schlang die Arme um mich und drückte mich auf den Stuhl.

„Beug dich vor und nimm den Kopf zwischen die Knie. Dann geht es dir gleich wieder besser.“

Ich tat, was sie sagte, doch ich zitterte am ganzen Körper und war machtlos dagegen. In mir schrie alles nach einer Antwort auf die Frage, was hier vor sich ging. Was war mit mir los? Warum sah ich plötzlich Dinge, die ich gar nicht sehen, geschweige denn glauben wollte?

Ein Vampir!, flüsterte der Wind. Ich schüttelte energisch den Kopf und knallte dabei gegen die Tischplatte. Doch der Schmerz war mir höchst willkommen, denn er war real, nicht eingebildet. Real - ich brauchte dringend etwas Reales.

„Joyful, alles okay?“

Ich öffnete die Augen und hob vorsichtig den Kopf.

Roxy hockte neben mir und drückte mir einen nassen, kalten Lappen in den Nacken. „Mein Gott, du hast mir eine Scheißangst gemacht! Du bist total weiß im Gesicht geworden und dein Blick war ganz leer, als wäre kein Leben mehr in dir. Mach so etwas nie wieder mit mir, okay?“

„Okay“, antwortete ich mit dem Anflug eines Lächelns.

Roxy schlang ihre Arme um mich. „Reiß dich am Riemen, Schwester, sonst muss ich andere Saiten aufziehen!“, flüsterte sie mir zu, bevor sie mich wieder losließ.

Ich brachte zittrig ein kleines Lachen zustande und setzte mich langsam auf.

Arielle reichte mir ein Glas Wasser, während der Wirt, der neben ihr stand, hektisch auf Tschechisch auf uns einredete. Ich nahm einen kleinen Schluck Wasser und versicherte dem Mann auf Deutsch, dass es mir gut ginge -

„Verspäteter Jetlag“, erklärte Roxy ihm. „Jet...lag. Verspätet“, wiederholte sie mit erhobener Stimme.

„Loooong time“, schob sie in diesem komischen Pidgin-Englisch nach, auf das viele Amerikaner im Ausland verfielen.

„Er ist Tscheche, Roxy, nicht taub!“, bemerkte ich und wischte mir mit dem nassen Lappen übers Gesicht, bevor ich ihn dem Wirt zurückgab. Dann trank ich noch ein bisschen Wasser, während die Leute wieder ihre Plätze einnahmen, als wäre nichts passiert. Ich rieb mir die Stirn und fragte mich, warum mein Verstand ausgerechnet diesen Moment gewählt hatte, um auseinanderzubrechen, und wie ich es anstellen sollte, ihn wieder zusammenzuflicken.

Ich brauchte ein bisschen Ruhe und eine Menge Dichtungsmasse fürs Gehirn.

„Ich glaube, du solltest dich lieber ein bisschen hinlegen, statt auf den Markt zu gehen“, meinte Roxy, die offenbar meine wirren Gedanken gelesen hatte.

„Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche.“

„Vielen Dank!“ Ich bemühte mich, das Gefühl der Bedrohung zu verdrängen, das in mir hochstieg und regelrecht wie ein Sturm in meinen Ohren heulte.

Ich biss die Zähne zusammen, während Roxy weiterplauderte, denn ich wollte diesem Gefühl auf keinen Fall nachgeben. Um mich auf die Realität zu konzentrieren und nicht auf das, was mir mein Gehirn vorgaukelte, klammerte ich mich an die seitlichen Stuhllehnen. Das Holz war real. Es war hart und vom jahrelangen Gebrauch stumpf und abgenutzt bis zu den geschnitzten Schnörkeln an den Enden. Ich zwang mich, gleichmäßig zu atmen, doch als ringsum wieder alles schwarz wurde, musste ich gegen das Bedürfnis ankämpfen loszukeuchen.

Er kommt, flüsterte eine Summe in meinem Kopf.

Da ist niemand!, schrie ich innerlich. Ich fragte mich, ob Tanya mir irgendein Halluzinogen untergejubelt hatte. Vielleicht hatte sie mir eine Pille ins Bier geworfen, bevor ich kam, um mir einen Streich zu spielen. Wenn ja, dann fand ich das gar nicht lustig, aber andererseits beruhigte mich dieser Gedanke auch: Wenn ich unter Drogeneinfluss stand, wurde ich immerhin nicht verrückt.

Ich nahm mein Glas und trank noch einen Schluck Wasser, aber wegen des heulenden Windes konnte ich dem Gespräch am Tisch nicht folgen. Es überraschte mich, dass die anderen ihn nicht bemerkten, und ich sah mich unauffällig im Raum um. Die Leute redeten, lachten, rauchten und tranken völlig unbehelligt von dem orkanartigen Wind. Ein gut aussehender dunkelhaariger Mann mit einer Wildlederjacke kam zur Tür herein und begrüßte den Wirt und ein paar von den Männern an der Theke, bevor er ein Glas Wein bestellte und sich zu einer munteren Gruppe gesellte. Eine Kellnerin kam mit einem Tablett voller Biere durch die Schänke. Jemand zog ein Kartenspiel aus der Tasche. Es sah alles völlig normal aus.

Doch der Wind wurde unerträglich laut, als schreie er vor Schmerz und Qual.

Aber in dem Moment, in dem ich dachte, ich würde selbst anfangen zu schreien, weil das rote Loch sich wieder vor mir auftat, war plötzlich alles ganz still.

Er ist da.

„Joy? Hast du gehört, was Arielle sagte? Ihre Runendeuterin hat letzte Woche gekündigt.“

„Hm?“ Ich drehte mich langsam zur Tür um und mein Blick erfasste jeden einzelnen Menschen im Raum. Niemand sah irgendwie ungewöhnlich aus.

Wie war es möglich, dass niemand außer mir die Gefahr spürte, die in der Luft lag?

„Sie sagte, Dominic suche einen Ersatz. Du könntest ihm anbieten, den Job für ein paar Tage zu übernehmen, solange wir in Blansko sind. Das wäre echt cool!“

„Dominic? Runen?“

„Sie ist fantastisch im Vorhersagen von Naturkatastrophen!“, prahlte Roxy gegenüber Arielle.

In diesem Moment flog die Tür auf, wobei der Korridor dahinter trotz der Lampen in der Schänke in tiefer Dunkelheit lag. Ich erstarrte und mir stockte der Atem, während ich darauf wartete, ihn sehen zu können und zu erkennen, was für eine schreckliche Kreatur mein Gehirn hervorgebracht hatte. War es ein Buckliger? War er verkrüppelt und verstümmelt und hing ihm das Fleisch in fauligen Fetzen vom Körper? Oder war es noch schlimmer?

In einen wallenden schwarzen Umhang gehüllt trat ein Mann über die Schwelle, der in theatralischer Pose innehielt und seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, bevor er lässig in die Schänke schlenderte. Er hatte dunkelblonde Locken und sein Haaransatz lief in der Stirnmitte spitz zu.

Seine Augen waren dunkel. Er sah so gut aus, dass es einem Engel die Tränen in die Augen getrieben hätte. Ihm folgte ein Mann, der ihn deutlich überragte.

Er war schätzungsweise zehn, fünfzehn Zentimeter größer als ich und trug ebenfalls Schwarz. Er sah nicht so gut aus wie der erste und war viel konventioneller gekleidet, aber er hatte etwas an sich, das mich magisch anzog.

„Da ist Dominic ja!“, rief Arielle begeistert.

„Was?“, fuhr Roxy auf und drehte sich ruckartig um. „Wo? Oh mein Gott, das ist er, der Typ mit dem Umhang?“

Ich saß regungslos auf meinem Stuhl. In meinem Kopf drehte sich alles, weil es plötzlich so still war.

Meine Haut kribbelte vor gespannter Erwartung.

„Ja, das ist er“, bestätigte Arielle. Tanya stand auf und ging auf die beiden Männer zu. Mein Blick wanderte wieder zu dem ersten. Er hatte gewartet, bis alle zu ihm herüberschauten, dann hatte er den schwarzen Umhang abgelegt und ihn mit einer schwungvollen Bewegung auf den Kleiderständer befördert, bevor er sich lächelnd den Leuten im Raum zuwandte. Seine Eckzähne waren lang und spitz und sahen sehr gefährlich aus.

Allerdings waren sie ebenso falsch wie er selbst, dessen war ich mir hundertprozentig sicher. Zweihundertprozentig. Und falls ich doch nicht verrückt wurde und keine Drogen eingeflößt bekommen hatte, bedeutete das . . Ich sah mich nach dem großen Mann um, der noch in der Tür stand. Sein Gesicht wirkte grimmig, seine Züge waren streng und kantig und seine Augen von einem eigenartigen Hellbraun-bernsteinfarben, dachte ich, aber auf die Entfernung war das schwer zu sagen. Was mich jedoch faszinierte, war seine machtvolle, selbstbewusste Ausstrahlung, die ihm ebenso gut stand wie seine dunkle Lederjacke und die schwarzen Jeans.

Ein Vampir!, flüsterte die Stimme in meinem Kopf erneut.

„Wer ist der Zweite? Ist das Dominics Geschäftspartner?“, fragte Roxy aufgeregt, aber ihre Worte kamen gegen mein Gedankenchaos kaum an.

Ein Vampir. Ich versuchte, die heimtückische kleine Stimme, die sich in meinem Inneren eingenistet hatte, ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen, aber das Problem war, dass der Mann genau so aussah, wie ich mir Dantes mährische Vampire immer vorgestellt hatte: maskulin, elegant, arrogant und so sexy, dass ich ihm am liebsten die Kleider vom Leib gerissen und die schamlosesten Dinge mit ihm angestellt hätte. Entsetzt hielt ich inne. Was fantasierte ich da eigentlich zusammen? Ein Vampir? Ein echter Vampir? Er war ebenso wenig ein Vampir wie sein Freund mit den künstlichen Zähnen und dem falschen Schauspielerlächeln.

„Nein, Milos ist geschäftlich unterwegs. Er hat viele Projekte. Der Gothic-Markt ist nur eines davon. Das da ist Raphael. Dominic hat ihn nach Le Havre eingestellt. Er ist für unsere Sicherheit verantwortlich.“

Der Mann namens Raphael beobachtete mit regungsloser Miene, wie Tanya mit Dominic sprach.

Dann betrat er langsam die Schänke und nickte dem Wirt zu, der ihn begrüßte und ihm ein großes Glas Bier reichte.

Ein Vampir.

„Sei einfach still, ich höre dir sowieso nicht zu“, murmelte ich.

„Was? Hast du was gesagt?“, fragte Roxy. „Nein.“

Sie zog eine Augenbraue hoch, wandte sich aber rasch wieder den beiden Männern zu, die allein durch ihre Anwesenheit den Raum beherrschten.

Nun, einer von ihnen jedenfalls, denn Dominic hatte eindeutig nicht Raphaels Format.

„Und dieser Raphael ... ist er auch ein Vampir?“, fragte Roxy Arielle.

Arielle spielte mit ihrem Bierglas herum. „Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube es eigentlich nicht, aber er bewegt sich immer sehr leise und unauffällig, und manchmal habe ich das Gefühl, er beobachtet mich...“

War er nun einer oder nicht? Das wusste wohl nur sein Frisör. Ich lächelte grimmig über mein lahmes Witzchen und versuchte, die Frage endgültig zu klären, ob ich a) verrückt wurde, b) unter Drogeneinfluss halluzinierte oder c) mich in Gesellschaft von etwas befand, an dessen Existenz ich nicht glaubte.

Doch wenn man bedachte, was ich gerade erlebt hatte, war ich wohl nicht die Richtige, um zu beurteilen, was real war und was nicht. Ich sah mich nach Raphael um. Er lehnte neben einer Topfpalme an der Wand und nickte bedächtig, während der Wirt munter auf ihn einredete.

Als der Mann kurz verschwand, um jemanden zu bedienen, drehte Raphael sich um und kippte wie versehentlich sein halbes Bier in den Blumentopf.

Ich musste grinsen. Ein betrunkener Vampir wäre ja wirklich das Allerletzte!

„Oh Gott, er ist sooo hinreißend! Ich wusste doch, dass sie so aussehen! Joy, sieh dir das nur an!“

„Ja, ja“, murmelte ich. Dominic und Tanya zogen eine richtige Show ab. Sie gebärdete sich völlig albern, während er sie auf eine Art und Weise befummelte, die er bestimmt für höchst schockierend und erotisch hielt, dabei war es eigentlich nur geschmacklos, wie er mit seinen künstlichen Zähnen völlig übertrieben an Tanyas langem weißen Hals herumknabberte. Ich fand die beiden langweilig und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann, der inzwischen zu seinem Gespräch mit dem Wirt zurückgekehrt war.

Raphael hatte seine Jacke ausgezogen und ich starrte wie gebannt auf sein Hinterteil, als er sich vorbeugte, um dem Wirt etwas zuzuraunen. Er trug Schwarz wie Dominic, aber er sah darin wirklich elegant und faszinierend aus und so ..

„Männlich“, seufzte ich.

„Das kannst du zweimal sagen“, pflichtete Roxy mir bei, die allerdings Dominic im Visier hatte.

Alle Augen waren auf ihn und Tanya gerichtet, denn er wirbelte sie unvermittelt im Walzerschritt durch den Raum. Im direkten Vergleich mit seinem schwarzen Seidenhemd, dessen obere Knöpfe offen standen, sodass seine Brust zu sehen war, wirkte seine Haut kalkweiß.

„Wahrscheinlich ist er total gepudert und rasiert sich die Brust“, sagte ich leise.

„Glaubst du?“, fragte Roxy und ihre Augen leuchteten auf, als das Paar an uns vorbeitanzte, wobei Dominic sich perfekt in Szene setzte, indem er grinsend die Zähne bleckte. Roxy seufzte sehnsüchtig.

„Bei ihm sieht es wirklich gut aus. Ich frage mich, ob Miranda die Botschaften der Göttin vielleicht vertauscht hat und ich eigentlich diejenige bin, der ein Vampir bestimmt ist. In so einen könnte ich mich glatt verlieben!“

Es lag mir auf der Zunge, ihr zu sagen, dass Dominic nicht im Entferntesten so interessant wie sein Begleiter, und schon gar kein Vampir war, aber als ich wieder in Raphaels Richtung schaute, stellte ich überrascht fest, dass er mich beobachtete. Er hielt lässig sein Glas in der Hand und lauschte mit geneigtem Kopf dem Wirt, aber seine seltsamen Augen waren eindeutig auf mich gerichtet. Als sich unsere Blicke kreuzten, wurde ich von den unterschiedlichsten Gefühlen überwältigt: Da war Wut, zwar unterschwellig, aber dennoch gewaltig, und ich spürte eine Einsamkeit, die so groß war, dass mir die Tränen in die Augen traten. Vor allem aber empfand ich Verzweiflung, die in großen Wellen über mich hereinbrach und mich förmlich unter sich begrub.

Doch fast genauso schnell, wie sie gekommen waren, verflogen die Gefühle auch wieder. Ich kam mir merkwürdig verlassen vor und war extrem verwirrt.

„Oh Gott, ich bin in Schwierigkeiten, in ernsten Schwierigkeiten“, stöhnte ich und zwang mich, meinen Blick von dem Mann loszureißen, der all das in sich barg, wovor Miranda mich gewarnt hatte, und noch viel mehr. Meine Haut brannte überall, wo sie unbedeckt war, als hätte er mich allein mit seinem Blick verbrannt.

„Was ist los? Wird dir wieder schwummerig?“ Roxy sah mich besorgt an.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich leide nur zeitweise unter Wahnvorstellungen. Kein Grund zur Beunruhigung!“

Sie runzelte die Stirn. „Was redest du da schon wieder? Geht es dir gut oder nicht? Wenn ich dich in dein Zimmer bringen soll, musst du es sagen.“

„Mir geht es gut“, versicherte ich ihr und schenkte Arielle ein Lächeln, das bestimmt erschreckend irr auf sie wirkte. „Vielleicht ein bisschen müde, aber okay. Ignoriert mich einfach, während ich meinen Zusammenbruch genieße.“

Roxy lehnte sich zurück und warf mir einen „Du kriegst später noch was zu hören!“-Blick zu, doch dann wurde sie von interessanteren Dingen abgelenkt, denn Dominic stolzierte mit Tanya am Arm auf unseren Tisch zu. Ich hätte gern gewusst, ob auch Raphael zu uns kam, aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, mich umzudrehen. Auf einen weiteren Empathieanfall - oder was immer es war, was ich gerade erlebt hatte - konnte ich gut verzichten.

„Roxy!“, zischte ich und beugte mich über den Tisch, während Dominic mit dramatischer Geste ein schwarzes Taschentuch (was sonst?) hervorzog und damit über Tanyas Stuhl wischte.

„Hm?“ Sie drehte sich widerstrebend zu mir um.

„Was?“ „Kommt er hierher?“

Ihr Blick wanderte zu Dominic, der sich abgewandt hatte, um jemandem am Nebentisch eine Frage zu beantworten.

„Nein, nicht er, der andere! Der Große!“

Der Echte, hätte ich fast gesagt, aber das konnte ich mir gerade noch verkneifen. Ich glaubte nicht an Vampire!

Roxy sah sich im Raum um. „Warum fragst du?“

Ich versuchte, mit den Schultern zu zucken, doch meine Haut fühlte sich immer noch verbrannt an.

„Ach, nur so.“

„Er ist ziemlich groß.“

„Und?“

„Du auch.“

„Hast du deine Pillen heute Morgen nicht genommen?“, fragte ich empört.

Sie grinste. „War ja nur so 'ne Frage. Ich dachte, du hättest vielleicht etwas für ihn übrig.“

Ich? Für ein womöglich blutsaugendes Monster?

„Nie im Leben! Ich kenne den Typen ja nicht mal!“

Roxys Grinsen wurde breiter. „Was regst du dich denn so auf?“

„Schluss damit!“

„Okay.“

Doch Roxy hörte nicht auf zu grinsen. Ich sah sie böse an.

„Joy?“

Ich beschloss, sie mit Missachtung zu strafen und selbst einen kurzen Blick zu riskieren, nur einen klitzekleinen, unauffälligen Blick, um herauszufinden, ob er mich immer noch anstarrte. Falls das Brennen auf meiner Haut irgendetwas zu sagen hatte, tat er das nämlich.

Doch das war nicht der Fall. Er war überhaupt nicht mehr an der Theke. Ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Verdammt.

„Joy?“

Ich schaute verstohlen in die andere Richtung. Dominic verteilte Flyer an die Leute, die in unserer Nähe saßen, aber von einem großen dunklen Typen, der möglicherweise - falls ich nicht verrückt wurde oder unter Drogen stand - ein Vampir war, fehlte jede Spur.

Ein Vampir!, hallte es zu meinem größten Ärger durch meinen Kopf.

Ich kam zu dem Schluss, dass Irrsinn die bessere Alternative war.

„Joy!“

„Was?“, schnauzte ich sie an. „Er steht direkt hinter dir.“

Ich fuhr vor Schreck derart zusammen, dass ich samt Stuhl nach hinten kippte und mit dem Kopf ziemlich unsanft auf dem Boden aufschlug. Das Letzte, was ich sah, bevor ich in Ohnmacht fiel, waren die Leute, die mich umringten und anstarrten.

Ein Augenpaar hob sich deutlich von allen anderen ab - es waren bernsteinfarbene Augen, leuchtende bernsteinfarbene Augen.

„Unheimlich“, seufzte ich noch, dann verlor ich das Bewusstsein.

Da eine Ohnmacht jedoch auch nicht das Wahre war, beließ ich es bei einem kurzen Ausflug und nahm schnellstmöglich meine fünf Sinne wieder zusammen. Kaum hatte ich jedoch erkannt, wo ich war, sehnte ich mich wieder nach dem Zustand der Bewusstlosigkeit. Ich führte einen raschen Körper-Check durch und stellte fest, dass ich auf dem kalten Boden saß und von etwas Hartem, Warmem gestützt wurde. Von etwas, das atmete. Ich drehte langsam meinen Kopf, um zu sehen, wer es war, und blickte in Raphaels bernsteinfarbene Augen.

Ein Vampir.

Ich schloss die Augen, lehnte mich an die Schulter, die mir Halt gab, und atmete unwillkürlich seinen Geruch ein. Es war eine berauschende Mischung aus dem würzigen Duft eines gesunden Mannes und dem schwachen Aroma von Seife. Vampir hin oder her, ich war auf jeden Fall froh, dass er nicht zu den Männern gehörte, die sich mit Eau de Cologne und Rasierwasser übergossen.

„Joy? Ihre Augen waren doch gerade offen, oder?“, fragte Roxy.

Widerstrebend begann ich, mich von dem warmen Körper hinter mir zu lösen. Der Arm, der um meine Taille lag, hinderte mich jedoch daran. Diese Geste erwärmte mir auf seltsame Weise das Herz.

„Oh, gut, sie ist wach. Arielle, du kannst den Wassereimer wegstellen, sie ist wieder bei Sinnen!“

Die besorgten Gesichter der Leute, die sich über mich beugten, drehten sich und tanzten vor meinen Augen und ich dachte, ich müsste mich übergeben.

„Oh, oh! Du wirst ganz grün im Gesicht. Das ist nicht gut!“

„Sie sieht nicht gut aus. Soll ich ihr noch ein Glas Wasser holen?“

„Jindrich, ruf den Doktor! Wir wollen nicht, dass sie uns für diesen Unfall verantwortlich macht.“

„Es wird Zeit, Dominic. Du willst doch bestimmt nicht zu spät kommen?“

Die Stimmen hallten laut in meinen Ohren und rissen mich immer wieder für einen kurzen Moment aus der warmen, schweren Benommenheit, die mich umfing. Mir wurde immer schlechter, bis ich sicher war, dass ich mich jeden Augenblick übergeben müsste. Der Druck des Arms, der mich festhielt, verstärkte sich, als ich ihn verzweifelt umklammerte und darauf wartete, dass der sich drehende Raum und mein Magen zur Ruhe kamen.

„Vielleicht braucht die Dame ein bisschen frische Luft.“

Ich wandte mich der Stimme zu, die meinen Albtraum unterbrach. Die Gesichter ringsum wichen zurück und jemand beugte sich über mich. Es war einer der Männer, die an der Theke gestanden hatten, ein gut aussehender Kerl mit hohen Wangenknochen und unergründlichen dunklen Augen. Mir stieg bittere Galle in die Kehle und ich musste an mich halten, um nicht zu würgen. Ich packte den Arm, der mich hielt, noch fester.

„Sie werden sich gleich wieder besser fühlen.“ Der Mann lächelte und strich mir die Haare aus der Stirn. Er hatte eine schöne Stimme, sehr tief, aber samtig weich. Sie umhüllte mich wie ein warmer, kuscheliger Umhang.

Augenblicklich legte sich die Übelkeit und der Raum drehte sich langsamer.

„Sie sind unser Bier nicht gewöhnt. Ausländern ist es häufig zu stark. Ich würde Ihnen raten, nächstes Mal den Wein zu probieren.“

Ich hatte jedoch nur einen Schluck Bier getrunken und wusste genau, dass es daran nicht liegen konnte.

Sonderbarerweise widerstrebte es mir jedoch, irgendetwas von dem zu bestreiten, was der Mann sagte.

Ich betastete vorsichtig meinen Hinterkopf und stieß auf eine Beule von der Größe einer halben Pflaume.

„Sie haben da nur eine kleine Schwellung“, beruhigte mich der Mann und strich mit den Fingern sachte über die schmerzende Stelle. Ich merkte, wie Raphael sich hinter mir bewegte.

„Sind Sie Arzt?“, fragte ich den Mann mit der seidigen Stimme.

Sein Blick verdüsterte sich einen Moment lang. Er wirkte plötzlich so traurig, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte, um ihn zu trösten und seinen Schmerz zu lindern. „Ich bin kein Arzt, aber ich habe einige Erfahrung in der Kunst des Heilens.

Ihre Verletzung ist nicht besonders schwerwiegend und sollte Ihnen schon morgen nicht mehr zu schaffen machen.“

Die Schmerzen, die sich in meinem Hinterkopf bemerkbar gemacht hatten, ließen nach und verschwanden zusammen mit der Übelkeit. Ich hatte eigentlich kein besonders großes Vertrauen in alternative Heilmethoden, aber ich musste zugeben, dass dieser Mann etwas sehr Beruhigendes und Schmerzlinderndes an sich hatte.

„Wer sind Sie?“, fragte ich. Seine Augen waren faszinierend, so ausdrucksstark und voller Gefühl, dass ich unwillkürlich näher an ihn heranrücken wollte, um ganz tief in diese Augen schauen zu können.

„Ich heiße Christian“, antwortete er und ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel, während ringsum anerkennendes Gemurmel laut wurde.

Vom Gebrauch der Nachnamen hielt man hier anscheinend nichts.

„Ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir dich ins Bett schaffen“, drang es rau an mein Ohr. Ich erstarrte. Im Vergleich zu Christians sanfter Stimme war Raphaels dunkel, ein wenig heiser und berührte mein Inneres auf eine unglaubliche Art. Sagte man Vampiren nicht nach, dass ihre Stimme und ihre Augen magische Wirkung hatten? Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, wurde ich vom Boden hochgezogen und man half mir auf die Beine.

Raphael ließ mich los, nahm mich jedoch rasch wieder in den Arm, als sich mir erneut alles drehte und ich schwankte.

„Tja, wenigstens ist sie jetzt nicht mehr so grün im Gesicht“, murmelte Roxy und rang die Hände. „Ich glaube, es ist wirklich das Beste, sie ins Bett zu bringen. Unsere Zimmer sind allerdings unter dem Dach und sie scheint mir noch recht wacklig auf den Beinen zu sein.“

Raphael sagte nichts. Er packte mich einfach und trug mich zur Tür.

„Äh ...“, machte ich benommen und zuckte zusammen, als ich von dem grellen Licht der Flurlampe geblendet wurde. Meine Nase berührte seine Wange.

Ich konnte es nicht fassen, dass er mich die drei furchtbar steilen Treppen hinauftrug und dabei nicht einmal außer Puste kam. Hätte ich nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass er ein blutrünstiger Untoter war, hätte ich den Mann glatt geküsst!

„Äh?“, wiederholte er und zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Du trägst mich“, stellte ich fest. Ich hatte das Gefühl, etwas Intelligentes sagen zu müssen, doch ich war viel zu angeschlagen, um meinem lädierten Hirn irgendetwas Vernünftiges abzuringen. Zuerst drohender Wahnsinn, dann der Drogenverdacht - und nun lag ich in den Armen eines Mannes, der unter Umständen ein Vampir war, und konnte an nichts anderes denken als daran, wie gut er roch und wie warm er sich anfühlte.

Natürlich ist er warm, er hat sich ja gerade erst an jemandes Blut gelabt.

Ich verdrängte die innere Stimme und sah ihm (fast) ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen.

„In der Tat“, entgegnete er und seine Stimme hallte in meinem Inneren nach.

Sein britischer Akzent verlieh seiner Stimme einen satten Klang, der mir sehr angenehm war. Ich fand das sexy. Es gefiel mir. Sehr.

„Die ganze Treppe hoch.“

„Weil dein Zimmer ganz oben ist“, entgegnete er.

„Aber du gerätst weder außer Atem noch bricht dir der Schweiß aus.“

Nun gingen beide Augenbrauen hoch. „Warum auch?“

„Ich habe ein nicht unbeträchtliches Gewicht“, erklärte ich. „Die meisten Männer würden mich nicht einmal durch einen Raum tragen wollen, geschweige denn drei Treppen hoch.“

„Ich bin nicht wie die meisten Männer“, stellte er fest und machte eine Drehung, als wir auf dem ersten Treppenabsatz ankamen.

Das kannst du laut sagen, lag mir auf der Zunge, aber ich verkniff es mir. „Du bist zwar offensichtlich sehr fit, aber ich bin trotzdem zu schwer. Du hebst dir ja einen Bruch! Lass mich einfach runter, den Rest schaffe ich schon allein.“

„Du bist nicht zu schwer.“

Ich sah ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. „Von welchem Planeten kommst du denn?

Falls es deiner Aufmerksamkeit entgangen ist, ich bin eins achtzig groß und ziemlich gut gebaut, wie meine Mutter zu sagen pflegte.“

„Zufällig gefallen mir Frauen, an denen was dran ist“, sagte er unbekümmert und musterte mich von oben bis unten. „Deine Kurven stehen dir ziemlich gut.“

Donnerwetter! Ein Mann, der stark genug war, um mich durch die Gegend zu schleppen, und mir obendrein Komplimente wegen meines Überangebots an weiblichen Rundungen machte? Wäre er keine wandelnde Leiche, hätte ich ihm auf der Stelle einen Heiratsantrag gemacht. Aber da die Möglichkeit bestand, dass er, falls ich nicht den Verstand verloren hatte, etwas war, das es nicht geben durfte, war Heiraten ausgeschlossen. Was wirklich sehr schade war, denn je näher ich ihm kam, desto besser sah er aus. Er war gut zehn Zentimeter größer als ich, genau da breit gebaut, wo es bei Männern klasse aussah, und hatte ein kantiges Gesicht und dunkles lockiges Haar, aber es waren seine Augen, die mich am meisten faszinierten. Bernsteinfarben, leuchtend und gold-braun gesprenkelt. Er nahm die zweite Treppe in Angriff.

Vampire können einen mit ihrem Blick hypnotisieren.

„Äh ...“

„Fängst du jetzt wieder damit an?“

Ich versuchte, ihn von oben herab anzusehen, was in meiner Situation gar nicht so leicht war. „Ich bitte um Verzeihung für den bedauerlichen Mangel an geistreichen Gesprächsbeiträgen, mein Herr, aber ich war noch vor Kurzem bewusstlos und finde etwas Nachsicht durchaus angebracht.“

„Verstehe.“

„Außerdem wurden wir einander noch gar nicht vorgestellt.“

Erwirkte etwas überrascht. „Ich dachte“, sagte er, als er auf dem letzten Treppenabsatz um die Ecke gebogen war, „das offizielle Miteinander-Bekanntmachen wäre out, genau wie Super-acht-Filme und Schallplatten.“

„Ganz untergegangen ist es aber noch nicht“, entgegnete ich. „Ich bin Joy Randall.“

Er trug mich die letzten Stufen hoch und blieb am Ende der Treppe stehen, um mir in die Augen zu schauen. „Raphael.“

„Nur Raphael?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Die meisten Leute haben zwei oder mehr Namen.“

„Ist das so?“

„Ja.“ Ich wartete. Er sah mich lange mit seinen wunderschönen Augen an, als wollte er sich mein Gesicht einprägen. Ich verlor die Geduld und beschloss, ihm einen Schubs in die richtige Richtung zu geben, obwohl man hätte meinen sollen, dass jemand, der schon einige Jahrhunderte gelebt hatte, wenigstens ein paar soziale Fähigkeiten erworben hatte. „Mein zweiter Vorname ist Martine. Ich wurde nach meiner Großmutter benannt. Joy Martine Randall.“

Unvermittelt huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

„Ich wurde nach meinem Urgroßvater benannt.“

„Uropa Raphael?“

„Griffin. Ich heiße Raphael Griffin St. John.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Raphael.“ Ich riskierte ein Lächeln, bevor mir klar wurde, was ich da tat. Ich flirtete mit einem Vampir! Was kam als Nächstes - ein Zungenkuss mit einem Werwolf?

Dirty Dancing mit einem Zombie? „Ich finde, das haben deine Eltern gut gemacht.“

Ich liebte seine Augenbrauen! Ich liebte es, wie sie auf und ab tanzten. Sie waren so vielsagend, auch ohne Worte. „Das mit deinem Namen“, erklärte ich es den fragend hochgezogenen Augenbrauen. „Er ist ungewöhnlich. Ich kannte noch nie einen Raphael. Der Name ist sehr romantisch. Und recht ausgefallen. Er gefällt mir.“

Ich stöhnte innerlich, kaum dass die Worte über meine Lippen waren. Was faselte ich da nur? Ich hing einem Mann am Hals, der womöglich ein Untoter war, und erzählte ihm, wie sehr mir sein Name gefiel!

„Das ist in unserer Familie so üblich. Bei uns heißen alle Männer entweder Raphael oder Griffin.“

„Und du hast beide Namen bekommen.“

„Ja.“

„Eine lustige Familientradition!“, bemerkte ich. Er verzog abschätzig das Gesicht.

„Wir haben noch eine andere Eigenart.“

„Wirklich? Welche denn? Ihr habt doch wohl keine Schwimmfüße, oder? So etwas will ich gar nicht wissen!“

Er zog die Augenbrauen noch höher. „Keine Schwimmfüße, danke der Nachfrage. Die familiäre Eigenart, die ich meine, ist noch viel irritierender: Ein St. John erkennt die Frau, die er heiraten wird, wenn er sie zum ersten Mal sieht.“

Ich sah ihn verblüfft an. „Oh. Das ist ziemlich eigenartig. Bei Männern gibt es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick doch eigentlich nicht. Trotzdem, Raphael ist ein cooler Name, also können eure Familientraditionen so schlecht nicht sein.“

„Ich hasse meinen Namen. Mir wäre es viel lieber, wenn die Leute mich einfach Bob nennen würden.“

„Bob?“

Ein Vampir namens Bob? War so etwas erlaubt?

„Bob? Warum Bob?“

Es gelang ihm, mit den Schultern zu zucken, obwohl er mich immer noch in den Armen hielt. „Warum nicht?“

Was sollte ich darauf sagen? „Aber Raphael ist ein hübscher Name. Irgendwie exotisch. Ungewöhnlich eben. Er ...“

„Klingt nach einem Callboy“, fiel er mir ins Wort.

„Tja, ich finde, er passt zu dir“, entgegnete ich, während Raphael mich durch den kleinen Flur trug.

Er sah mich aus dem Augenwinkel an. „Du findest, ich sehe aus wie ein Mann, der sich dafür bezahlen lässt, Frauen zu beglücken?“

„Ich glaube, eine Menge Frauen würden sich gern gegen Bezahlung von dir beglücken lassen“, sagte ich. „Also, ich auf jeden Fall, wenn ich ein bisschen Geld übrig hätte.“

Er blieb vor meiner Tür stehen und sah mich merkwürdig an. „War das ein Kompliment oder eine Beleidigung? Willst du damit sagen, du würdest gern mit mir schlafen?“

„Naja, nagel mich nicht darauf fest, aber ich muss zugeben, dass es jetzt, wo du mich so schön in den Armen hältst, durchaus eine Option wäre, aber ich muss dich warnen: Ich habe gerade festgestellt, dass mein Verstand ziemlich im Eimer ist. Mein Urteilsvermögen ist also nicht das beste.“

Raphael setzte mich vorsichtig ab und hielt mich an der Taille fest, während ich abwartete, ob der Raum aufhörte, sich zu drehen. Das tat er.

„Ich glaube, am besten ist es für mich, wenn ich deine Äußerung als Kompliment nehme.“ Seine Hände waren warm, und als ich spürte, wie seine Finger sich ganz leicht auf meinem Rücken bewegten, bekam ich weiche Knie.

„Jetzt habe ich dich gekränkt. Das tut mir leid. Es ist einfach so, dass die Frauen in meiner Familie nicht lange drum herumreden und schnell sagen, was sie denken. Ich vergesse immer, dass nicht jeder Wert auf meine Meinung legt.“

Seine Augen funkelten. Ich wäre am liebsten abgetaucht in die bernsteinfarbene Tiefe, um darin zu versinken. „Ganz im Gegenteil.

Sonderbarerweise sehe ich mich förmlich genötigt, dich zu ermuntern, mir deine Ansichten anzuvertrauen.“

Wäre er nur nicht so verdammt sexy! Er stand direkt vor mir und glühte geradezu vor Sinnlichkeit. Ich kämpfte gegen das ungehörige Verlangen an, mich in seine Arme zu stürzen, und trat einen Schritt zurück. „Du gehst jetzt am besten. Sonst stürze ich mich noch auf dich und du siehst nicht so aus, als ließest du dir gern einen Kuss aufdrängen.“

Er bedachte mich mit einem so leidenschaftlichen Blick, dass mir die Luft wegblieb. „Du wärst überrascht, was ich alles gern habe.“

Mannomannomann! Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Zum Glück hatte er Erbarmen mit mir und meinem verwirrten Verstand und erwartete keine Antwort. „Hast du deinen Zimmerschlüssel?“, fragte er und streckte die Hand aus.

„Den habe ich“, erklang es fröhlich aus dem Treppenhaus. „Mann, diese Stiege hat es wirklich in sich! Momentchen, da bin ich schon! Joy, der Hotelchef will wissen, ob er dir einen Arzt rufen soll.

Zumindest glaube ich, dass er das gesagt hat. - Jesses!“ Roxy blieb neben Raphael stehen und musterte mich mit großen Augen. „Du hast ganz schön was mitgemacht heute, nicht wahr? Du siehst furchtbar aus. Vielen Dank, Raphael, ich bringe sie ins Bett.

Ich darf dich doch Raphael nennen, oder? Bist du morgen auch auf dem Markt?“

Ärger wallte in mir auf, als ich sah, wie meine beste Freundin ausgerechnet dem Mann schöne Augen machte, der vermutlich der Einzige auf der ganzen Welt war, der mich drei Treppen hochtragen konnte und mir dann noch sagte, dass ihm meine Kurven gefielen.

Ich schenkte ihm mein schönstes Lächeln, streckte hinter seinem Rücken die Hand aus und zwickte Roxy kräftig in den Arm.

Sie schrie auf und zog ihren Arm weg. „Ach, so ist das? Also doch?“ „Nein.“

„Hm!“ Sie rieb sich den Arm, bevor sie die Tür aufschloss.

„Vielen Dank, Bob“, sagte ich liebenswürdig zu Raphael.

„War mir ein Vergnügen“, entgegnete er und in seinen Augen lag ein gefährliches Funkeln.

„Bob? Ich dachte, er heißt Raphael?“ Ich ließ mich bereitwillig von Roxy ins Zimmer zerren und bemuttern. Sie packte mir einen Eisbeutel auf die Beule, die gar nicht mehr wehtat. Als ich im Bett lag, ließ ich auch ihre Standpauke über mich ergehen.

Ich solle gefälligst vorsichtiger sein in einem Land, wo man nicht so genau wisse, wie es um die Gesundheitsfürsorge bestellt sei, bekam ich zu hören, dann ging es noch um meine Blödheit, mich buchstäblich dem erstbesten sexy Kerl an den Hals zu werfen, der mir über den Weg lief.

Der letzte Teil ließ mich auffahren. „Was? Bist du verrückt? Ich bin mit meinem Stuhl umgekippt, ich habe mich dem Mann nicht an den Hals geworfen!

Du tust ja gerade so, als hätte ich mich in ihn verknallt, kaum dass er den Raum betreten hatte.“

Ich ignorierte die Stimme in meinem Inneren, die mir zuflüsterte, dass Roxys Behauptung näher an der Wahrheit war, als ich zugeben wollte; besonders, da die Welt, wie ich sie kannte, Kopf stand und er möglicherweise ein ... Ich verpasste meinem Gehirn einen mentalen Knebel, um es zum Schweigen zu bringen.

„Also, du musst zugeben, dass er dein Interesse geweckt hat. Und er sieht wirklich nicht schlecht aus, mal abgesehen von diesen seltsamen Augen.“

„Die sind nicht seltsam, sondern wunderschön“, entgegnete ich und nahm den Eisbeutel vom Kopf.

„Ich brauche kein Aspirin mehr, mir geht es schon viel besser.“

„Gut. Schlaf dich richtig aus, dann bist du morgen wieder fit. Willst du noch etwas essen?“ Roxy räumte meine Kleider weg und brachte mir ein Glas Wasser und das Buch, das noch in meinem Koffer verstaut war.

„Nein, danke. Aber du solltest eine Kleinigkeit essen. Du wirst immer so hyperaktiv, wenn dein Blutzuckerspiegel zu niedrig ist.“ Ich ließ mich in die Daunenkissen sinken und genoss es, verwöhnt zu werden.

„Ja, Mama. Schlaf jetzt! Wir reden morgen.“

„Worüber?“, fragte ich stirnrunzelnd, als Roxy bereits in der Tür stand. „Falls du mich wegen dieses Kerls in die Mangel nehmen willst ...“

„Er heißt Raphael“, bemerkte sie unerträglich frech.

„Das kannst du vergessen, da gibt es nichts zu reden.“

„Schlaf jetzt!“, wiederholte sie mit einem vielsagenden Lächeln. „Morgen hast du einen wichtigen Tag vor dir.“

Ich beschloss, meine Augenbrauen sprechen zu lassen, wie Raphael es immer tat, einfach nur um auszuprobieren, ob es auch bei mir funktionierte.

„Der Markt!“, beantwortete Roxy meine stumme Frage. „Da willst du doch besonders gut aussehen!

Schließlich wirst du dort deinen Vampir kennenlernen!“

Und wenn das schon geschehen war? „Ja natürlich, ganz bestimmt!“

„Den Mann, dessen Seele du retten wirst!“

„Du hast wirklich 'ne Meise!“

„Er wird dich an seine breite Brust drücken, dir tief in die Augen sehen und dir sagen, dass du ihm gehörst, ihm allein -aber das kann man wirklich nicht von ihm verlangen, wenn du so aussiehst wie jetzt!“

„Hiermit erkläre ich dich für unzurechnungsfähig!

Gleich morgen früh lasse ich dich entmündigen!“

„Und dann wird er das Vereinigungsritual durchführen und du wirst ein glückliches Leben mit deinem Vampirmann führen, genau wie in Dantes Büchern.“

Ich holte tief Luft. „Es gibt keine Vampire!“

Roxy grinste. „Gute Nacht! Träum was Schönes und lass dich nicht von den Bettwanzen beißen. Dieses Vergnügen sollte allein ihm vorbehalten bleiben!“

Der Eisbeutel verfehlte Roxy zwar, aber das Geräusch, als er mit Karacho gegen die Tür knallte, war äußerst befriedigend.

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